Der Rückwärtskurs ist vorerst gestoppt

Seit dem BTI 2012 hatte sich Ostmittel- und Südosteuropa im regionalen Durchschnitt fast kontinuierlich verschlechtert. Dieser Trend ist gebrochen, und allen voran die EU-Beitrittskandidaten Albanien und Nordmazedonien machen beeindruckende Fortschritte. Doch wie sich die Region in den nächsten Jahren entwickelt, wird maßgeblich weiter im Osten entschieden.

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine leben die Länder Ostmittel- und Südosteuropas im Schatten eines Kriegs, der ihre Transformationspfade noch länger beeinflussen dürfte. Kurzfristig hat die Polarisierung innerhalb der meisten Länder weiter zugenommen, und auch die Gegensätze zwischen einigen Staaten haben sich verschärft. Dies gilt insbesondere für Ungarn und die anderen NATO-Mitglieder in Bezug auf die Unterstützung für die Ukraine sowie die immer wieder neu entflammenden Feindseligkeiten zwischen dem Kosovo und Serbien. 

Die Volkswirtschaften erholten sich weitgehend von dem Pandemieeinbruch, hatten jedoch mit einer erhöhten Staatsverschuldung und Haushaltsdefiziten zu kämpfen. Diese waren aufgrund steigender Inflation und Zinsen sowie der Dringlichkeit, die Energieversorgung zu diversifizieren und in erneuerbare Energien zu investieren, schwer in den Griff zu bekommen. 

Was die Regierungsführung betrifft, so bleiben Korruption und ein schwindender politischer Konsens in den meisten Ländern drängende Probleme, während sich der Einfluss der EU auf die Region etwas verändert. Einerseits haben sich die Beitrittsaussichten einiger westlicher Balkanländer verbessert. Auch wenn sich der Verhandlungsbeginn zwischen der EU und Albanien sowie Nordmazedonien verzögerte, sind es diese beiden Länder, die im vergangenen Jahrzehnt die größten Sprünge in ihrem Demokratie-Status gemacht haben. Derweil dauern die Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Polen mit der EU an. In Summe jedoch hat die Region den seit 2012 gemessenen Rückwärtskurs gestoppt, bleibt die führende Region im BTI – und die einzige ohne Autokratie.
 

Politische Transformation

Ein Ringen um Stabilität

Albanien, Kroatien und Nordmazedonien erreichen im BTI 2024 ihren höchsten Demokratisierungsgrad seit einem Jahrzehnt, und auch Kosovo liegt wieder in der Nähe seines Bestwerts. Sowohl für Albanien als auch für Nordmazedonien war die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr 2022 ein Meilenstein. Albanien verbesserte insbesondere die Rechtsstaatlichkeit und die Stabilität der demokratischen Institutionen, beides wichtige Aspekte der EU-Beitrittsbedingungen. Bei den Parlamentswahlen 2021 erreichte die Sozialistische Partei (PS) des langjährigen Ministerpräsidenten Edi Rama eine unveränderte Anzahl von Sitzen (74 von 140). Die 2016 eingeleitete, umfassende Justizreform wurde mit der Ausweitung der Überprüfung von Richtern und der verstärkten Untersuchung von Korruptionsfällen auf höchster Ebene fortgesetzt, die durch den Aufbau neuer Institutionen unterstützt wurden. Der neue Staatspräsident Bajram Begaj, ein pensionierter Militäroffizier, hat sich als neutraler erwiesen als sein Vorgänger Ilir Meta. 

Beeindruckend ist die Entwicklung Nordmazedoniens. Nach dem dramatischen Sturz des langjährigen Ministerpräsidenten Nikola Gruevski im Jahr 2016 konnte das Land seinen Wert für den Demokratie-Status seit dem BTI 2018 um 1,30 Punkte verbessern. Obwohl Nordmazedonien große Fortschritte auf dem Weg zu gut funktionierenden demokratischen Institutionen und Meinungsfreiheit gemacht hat und vor kurzem Verfahren gegen mehrere hochrangige Beamte wegen Amtsmissbrauchs eingeleitet hat, bestehen noch erhebliche Herausforderungen im Bereich staatlicher Identität sowie dem wechselseitigen Vertrauen, das durch die Instabilität nach dem Verlust der Unterstützung der regierenden Sozialdemokratischen Union bei den Kommunalwahlen 2021 weiter untergraben wurde. Auch der benachbarte Kosovo hat in den vergangenen sechs Jahren stetige Fortschritte gemacht und kann nach dem klaren Wahlsieg des Bündnisses des Ex-Premierminister Albin Kurti im Februar 2021 auf etwas mehr Stabilität hoffen. Kroatien (+ 0,50) profitiert genau von solch einer Stabilität – trotz zahlreicher Korruptionsskandale der Mitte-Rechts-Koalitionsregierung, einschließlich der Verhaftung eines amtierenden Ministers. 

In Slowenien wurde die autoritär ausgerichtete Regierung von Janez Janša bei den Parlamentswahlen 2022 durch die progressive Regierung von Robert Golob abgelöst. Dessen erst im Januar 2022 gegründete Partei Freiheitsbewegung gewann eine Beinahe-Mehrheit mit 41von 90 Sitzen in der Nationalversammlung – eine historische Rekordzahl. Golobs Aufstieg zeigt jedoch auch, wie instabil die slowenische Politik seit 2011 geworden ist: Die Wahlen von 2022 waren die vierten in Folge, die entweder von einer neu gegründeten Partei gewonnen wurden oder einen Chef einer solchen Partei direkt ins Amt des Ministerpräsidenten katapultierten. Tschechien erlebte eine zunehmende Polarisierung und Mobilisierung, aber auch die Wahlniederlage des populistischen Ministerpräsident Andrej Babiš. Er unterlag Petr Pavel, einem ehemaligen General und Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses.

In Ungarn, Serbien und bis zu den Wahlen im Oktober 2023 auch in Polen haben die zunehmend autoritären Führer ihre Macht dagegen konsolidiert. Umso bemerkenswerter: Meinungsumfragen von Eurobarometer im Februar 2023 zeigten sowohl in Polen als auch in Ungarn weiterhin ein hohes Maß an Unterstützung für die Demokratie und ein überdurchschnittliches Vertrauen in die EU.

Wirtschaftliche Transformation

Wie hoch steigt die Schuldenlast?

Wirtschaftlich erlebte Ostmittel- und Südosteuropa zwei grundverschiedene Jahre: 2021 stand im Zeichen einer soliden Erholung von den Folgen der Pandemie mit zum Teil zweistelligen Wachstumsraten. Demgegenüber war 2022 gekennzeichnet von einer galoppierenden Inflation im Schatten der russischen Invasion in der Ukraine und deren Auswirkungen auf die Energiepreise.

Die Länder mit den größten Zugewinnen im BTI 2024 – Albanien (+0,79), Kroatien (+0,61) und Montenegro (+0,32) – gehörten auch zu jenen mit den höchsten Wachstumsraten. Die beiden letztgenannten Länder profitierten dabei von der Erholung des lebenswichtigen Tourismussektors nach der Aufhebung der COVID-Reisebeschränkungen. Kroatien war im Januar 2023 das vorerst letzte Land, das der Eurozone beitrat, nachdem es die Konvergenzkriterien in Bezug auf Inflation und Haushaltsdefizit erfüllt hatte, während es vor dem Hintergrund der Pandemie vom Kriterium der Staatsverschuldung ausgenommen wurde. 

Die öffentliche Verschuldung und die Haushaltsdefizite stellen regionsweite längerfristige Herausforderungen dar, die durch steigende Inflation und Zinsen noch verschärft werden. Die durchschnittlich niedrige öffentliche Schuldenlast der Länder (44,1 % des BIP im Durchschnitt im Jahr 2019), die deutlich unter dem EU-Durchschnitt (77,7 %) lag, ist 2022 auf 48,6 % gestiegen. Angesichts steigender Zinssätze könnte der Schuldendienst die Region vor künftige Herausforderungen stellen, wobei die Erfahrung von Montenegro zeigt, wie Verschuldung erfolgreich gemanagt werden kann: Das Land hatte mit einer massiven Schuldenlast zu kämpfen (107,4 % im Jahr 2020), schaffte es aber, diese bis 2022 auf sehr viel besser beherrschbare 71,3 % zu senken und gleichzeitig seine sozialen Sicherungsnetze zu stärken.

Um fiskalische Stabilität zu erreichen, haben mehrere Länder in der Region eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild eingeführt, von denen die jüngste in Serbien Ende 2022 als Reaktion auf die Empfehlungen des IWF verschärft wurde. Höhere Inflation und Energiepreiserhöhungen treffen jedoch in der Regel die Haushalte, die bereits von Armut bedroht sind, am härtesten, und Ausgabenerhöhungen sind manchmal nicht nur politisch sinnvoll, sondern auch zwingend notwendig, wie beispielsweise die Indexierung der Sozialtransfers für die Ärmsten in Bulgarien. 

Polen (-0,21), die Slowakei (-0,14) und Tschechien (-0,11) mussten die stärksten Rückgänge hinnehmen, und in allen drei Ländern war die Fiskalstabilität einer der Hauptgründe für die Herabstufung: Die öffentlichen Ausgaben mögen überall aus völlig legitimen Gründen aufgrund externer Faktoren gestiegen sein. Die langfristige Haushaltstabilität bezogen die Regierungen jedoch nicht in ihre Abwägungen mit ein. So versuchten die polnische und slowakische Regierung die institutionellen Mechanismen der Fiskalverantwortung auszuhebeln. Polen hatte auch mit Umweltfragen zu kämpfen und dem mangelhaften Schutz privater Unternehmen, da die Regierung versuchte, Medien und Banken als strategische Sektoren zu „repolonisieren“. 

Eine besondere Aufgabe für die meisten Länder der Region bestand schließlich darin, sich von russischem Erdgas unabhängig zu machen. Noch Anfang 2021 stammten mehr als 50% des verbrauchten Erdgases aus Russland, Ende 2022 waren es nur noch weniger als 13%. Tschechien ist ein Paradebeispiel: Das Land war zuvor vollständig von russischem Gas abhängig, aber bis Januar 2023 wurden 96% durch andere Quellen ersetzt, darunter LNG und erneuerbare Energien. 

Governance

Vom schwierigen Umgang mit anti-demokratischen Akteuren

Trotz eines kontinuierlichen Abwärtstrends im Governance-Index seit dem BTI 2006, der stärker ausgeprägt ist als in anderen BTI-Regionen, schneidet Ostmittel- und Südosteuropa hier immer noch deutlich am besten ab. Allerdings weisen nur die drei baltischen Staaten ein „sehr gutes“ Transformationsmanagement auf. „Mäßig“ ist es hingegen in drei EU-Mitgliedstaaten, die durch chronisch schwache Governance (Rumänien) oder autokratische Tendenzen (Polen und Ungarn) gekennzeichnet sind. Polen und Ungarn gehören auch zu den Ländern, in denen die Konsensbildung, ohnehin ein Schwachpunkt der Region, in der vergangenen Dekade am stärksten gelitten hat. 

Kurzfristig sind aber nur wenige größere Ausschläge zu erkennen. Positive Ausnahmen sind Estland (+0,34) und Albanien (+0,28). Estland führte vom BTI 2008 bis zum BTI 2020 das regionale Governance-Ranking an, büßte diesen Rang aber ein, nachdem die rechtsradikale Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) 2019 der Regierungskoalition beitrat. Nach dem Ausschluss der EKRE aus der Regierung Anfang 2021 hat sich die Lage stabilisiert. Insbesondere Ministerpräsidentin Kaja Kallas hat die westliche Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine aktiv mitgestaltet, und in Bezug auf den Klimawandel und gleichgeschlechtliche Partnerschaften haben sich die Regierungskoalitionen dem europäischen Mainstream angeschlossen. In Albanien hat die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen im Juli 2022 den Reformbemühungen neuen Schwung verliehen. Viele dieser Reformen sind jedoch noch nicht abgeschlossen und werden häufig von der internationalen Gemeinschaft und den EU-Beitrittsanforderungen vorangetrieben, während es an Eigenverantwortung fehlt. So wurde die Justizreformen fast vollständig von internationalen Akteuren ausgearbeitet, ausgehandelt, finanziert und überwacht.

Signifikant an Regierungsqualität verloren haben Serbien (-0,45), Rumänien (-0,39), Montenegro (-0,30) und die Slowakei (-0,27). Trotz der mehr als 15 Jahre währenden EU-Mitgliedschaft ist die Regierungsführung in Rumänien nach wie vor von halbgaren Reformen, Durchwursteln und der Vereinnahmung des Staates durch private Interessen (state capture) gekennzeichnet, verbunden mit einer übermäßigen Abhängigkeit von der EU bei der Festlegung wichtiger Maßnahmen, deren Scheitern oder Unpopularität bequemerweise Brüssel angelastet werden kann. In Montenegro wurden zwar neue Fälle von mutmaßlicher Korruption und organisierter Kriminalität aufgedeckt, doch bleibt abzuwarten, wie groß der Wille ist, sie auch nachhaltig zu bekämpfen. Unter der technokratischen Regierung war die Koordinierung der wichtigsten EU-Integrationsbemühungen uneinheitlich, eine umfassende Wahlrechtsreform ist ins Stocken geraten, und das bahnbrechende Reformprogramm „Europa jetzt“ wurde kritisiert, weil es an einer angemessenen analytischen Grundlage mangelt. Zudem beklagt die Zivilgesellschaft ihre begrenzte und oft nur symbolische Beteiligung an den Entscheidungsprozessen. 

In Serbien beherrschen antidemokratische Kräfte faktisch das Land, da Präsident Aleksandar Vučić, oft unter Verletzung der Verfassung, alle Macht an sich gerissen hat und andere nationalistische und extremistische organisierte Gruppen nur auf Geheiß des Regimes zugelassen sind. Vučić verhindert oder provoziert potenzielle gesellschaftliche Konflikte, je nachdem, ob sie seinen Zielen dienen. Das Regime bleibt auch ideologisch und persönlich in Ära von Slobodan Milošević verwurzelt. Im Vergleich schneidet die Slowakei zwar insgesamt viel besser ab, doch ein solider Konsens über demokratische Werte ist nach den Wahlen 2020 allmählich zusammengebrochen, was zum Teil auf die Inkompetenz der Regierung und ihre Ausrichtung auf kurzfristige Popularitätsgewinne zurückzuführen ist.

Ausblick

Eine der gemeinsamen und akuten Governance-Herausforderungen war die Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Vor allem die baltischen Staaten und Polen haben sich an vorderster Front für eine scharfe Reaktion gegenüber Russlands, für Flüchtlinge und die Zivilbevölkerung in der Ukraine sowie ein Höchstmaß an militärischer Unterstützung eingesetzt. Die meisten anderen Länder in der Region unterstützten die EU- und NATO-Linie. 

Ein klarer ukrainischer Sieg in diesem Krieg könnte den Ländern des westlichen Balkans, insbesondere Albanien und Nordmazedonien sowie möglicherweise Montenegro, Hoffnungen auf einen EU-Beitritt machen. Obwohl diese Länder in den Verhandlungen technisch gesehen „hinter“ Serbien liegen, erscheint ihre tatsächliche Beitrittsbereitschaft höher. Eine geringere Attraktivität Russlands als Verbündeter könnte in anderen westlichen Balkanländern und sogar in Ungarn ein transformatives Potenzial für Reformen haben. Ohne eine vollständige Befreiung der Ukraine dürfte Russland in einigen Ecken der Region hingegen eine erhebliche Anziehungskraft behalten. Dies könnte zum Beispiel die Auseinandersetzungen in Bosnien und Herzegowina weiter verschärfen, das bereits kurz vor dem Auseinanderbrechen steht. Und es könnte ein weiteres Pulverfass anheizen: die schwelenden ungelösten Probleme zwischen Serbien und dem Kosovo. 

Die Auswirkungen des Krieges werden wahrscheinlich selbst im Fall eines raschen Endes spürbar sein. Energiepreiserhöhungen und ein höheres Armutsrisiko sind erste Folgen, und das zu einer Zeit, in der die Verteidigungsausgaben dringend erhöht werden müssen und massiv in die Diversifizierung der Energiequellen investiert werden müsste. Darüber hinaus haben viele Länder eine sehr große Zahl ukrainischer Flüchtlinge aufgenommen – größtenteils herzlich. Diese könnten aber zum Spielball der Politik werden. Doch trotz mancher dunklen Wolke: Einige Länder der Region haben einen Grad an Stabilität erreicht, der für ihre Nachbarn als Inspiration dienen kann.